Peter Eigner, und Andrea Heilige, Hrsg. Ö?sterreichische Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. 175 Jahre Wiener StÖ¤dtische Versicherung. Wien und MÖ¼nchen: Verlag Brandstaetter, 1999. 272 S. DM 135,00 (leinen), ISBN 978-3-85447-693-1.
Reviewed by Manfred W. K. Fischer (Universität Salzburg)
Published on HABSBURG (May, 2000)
Österreichs Wirtschaft und ihr Weg in die Moderne
Das vorliegende Werk zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Oesterreichs im 19. und 20. Jahrhundert erschien im Auftrag der Wiener Staedtischen Versicherung, einer der groessten oesterreichischen Versicherungen, die 1999 ihr 175-jaehriges Bestandsjubilaeum feierte. Es ist lobenswert, wenn grosse Wirtschaftsunternehmen Jubilaeen zur Herausgabe derartiger Publikationen und der Unterstuetzung der damit verbundenen Recherchearbeit nutzen. Besonders erwaehnenswert ist, wenn -- wie in diesem Fall -- die eigene Unternehmensgeschichte dabei nur am Rande vorkommt und das Werk nicht der Selbstbeweihraeucherung dient. Nach dem Geleitwort widmet die Wiener Staedtische das Buch besonders jenen jungen Menschen, die heute im Wohlstand aufwachsen und den aktuellen oekonomischen Status Oesterreichs als selbstverstaendlich ansehen. Ihnen soll das Werden dieses Wohlstandes naehergebracht werden.
Zu dieser Widmung steht allerdings der stolze Preis (ATS 990,00/DM 136,00) des Werkes, der seinen Erwerb fuer junge Menschen sicherlich erschwert, im Widerspruch. Obwohl eine hervorragende Ausstattung und graphische Gestaltung natuerlich ihren Preis haben. Die Taetigkeitsfelder der Herausgeber sind die wirtschaftshistorische Forschung und die Wirtschaftspublizistik bzw. PR. Peter Eigner arbeitet als Universitaetsassistent am Institut fuer Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universitaet Wien und verfasste bisher zahlreiche Veroeffentlichungen zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Andrea Heilige studierte an der Universitaet Wien Volkswirtschaft und war bis 1990 als Wirtschaftspublizistin bzw. Chefredakteurin taetig. Seitdem arbeitet sie als selbstaendige PR-Beraterin in Wien. Susanne Breuss ist Kulturwissenschaftlerin und als Lehrbeauftragte an den Instituten fuer Volkskunde der Universitaeten Wien und Graz taetig. Sie weist zahlreiche Publikationen zum Thema weiblicher haeuslicher Alltag auf.
Von Seiten der Autoren war es Ziel des Projektes, den Spagat zwischen den Anspruechen einer breiten Oeffentlichkeit und denen der Fachkollegen an ein derartiges Werk zu schaffen. Solche Zielsetzungen haben meist Kritik von beiden Seiten, die zufriedengestellt werden sollen, zur Folge. Das angestrebte Ziel wurde hier allerdings erreicht. Den leicht lesbaren Text illustrieren viele Abbildungen und Fotos. Als Marginalien beigefuegte Statistiken und Zeittafeln vertiefen das im Text vermittelte Wissen. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Oesterreichs im 19. und 20. Jahrhundert (bis 1918 primaer cisleithanische Reichshaelfte der Habsburgermonarchie, danach Republik Oesterreich) wird dem Leser als ein mehrschichtiger Prozess nahegebracht, der Politik, Gesellschaft und Wirtschaft umfasst. Wissenschaftlich steht die vorliegende Publikation im Umfeld der Arbeiten von Roman Sandgruber. Der Begriff der Wirtschaftsgeschichte wird weit definiert und umfasst wesentlich mehr als Wachstumsraten und Konjunkturzyklen. Auch interessante Elemente der Alltagsgeschichte finden dadurch Eingang in die Betrachtungen.
Besonderen Stellenwert haben dabei die technischen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Industrialisierung Oesterreichs. Wann neu entwickelte Produktionstechniken (Kokshochoefen, mechanische Webstuehle) in Oesterreich erstmals eingefuehrt wurden, findet immer wieder Erwaehnung. Dabei erfolgt auch die Thematisierung der Frage, warum eine bestimmte Technik nicht schon frueher eingesetzt wurde. Der spaete Einsatz der Dampfmaschine in den Alpenlaendern findet hier z.B. seine Erklaerung durch die reichlich vorhandene Wasserkraft. Auch die Technisierung der haeuslichen Arbeitswelt wird zu jedem Zeitabschnitt behandelt. Diese Textabschnitte stammen von Susanne Breuss.
Die Darstellung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung Oesterreichs waehrend der letzten 200 Jahre wird zeitlich in sechs Abschnitte (Vormaerz; 1848-1913; Erster Weltkrieg; Zwischenkriegszeit; Nationalsozialistische Herrschaft; nach 1945) aufgegliedert. Die Darstellung der Entwicklung fusst auf bekannter Sekundaerliteratur. Dadurch bietet sie keine neuen Forschungsergebnisse, was die Autoren auch nicht beabsichtigt haben. Auf S. 51-54 findet sich jedoch ein Abschnitt zum Thema der Haushaltsrationalisierung, der die beschriebene Gliederung durchbricht und besser an anderer Stelle in ein Kapitel integriert worden waere.
Nach den Vorbemerkungen behandelt der erste Abschnitt (Vormaerz oder Biedermeier?) die Zeit vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis 1847. Die wirtschaftliche Situation der Habsburgermonarchie nach den Napoleonischen Kriegen wird als Ausgangsposition dargestellt. Besonderen Wert legen die Autoren hier auf die strukturellen Voraussetzungen (Kapitalbedarf, Verkehr, usw.) zum Eintritt der Monarchie ins Maschinenzeitalter. Die Entwicklung der Textilindustrie sowie der Eisen- und Stahlindustrie werden skizzenartig abgehandelt -- auch in technischer Hinsicht. Die sozialen Aspekte der im Anfangsstadium befindlichen Industrialisierung finden ebenfalls Erwaehnung.
Der zweite zeitliche Abschnitt (Auf dem Weg in die Industriegesellschaft) umfasst die Jahre 1848 bis 1913. Die institutionell-organisatorischen Veraenderungen nach 1848 werden von den Autoren als Entwicklungssprung gesehen. Die Phase des Neoabsolutismus (1848-1860/61) brachte fuer die Monarchie drei grosse institutionelle Reformen (Grundentlastung, Liberalisierung des Aussenhandels, Gewerbeordnung) auf dem Gebiet der Wirtschaft. Trotzdem deuten -- nach Ansicht der Autoren -- einige Kennziffern darauf hin, dass der Konjunkturaufschwung Westeuropas in dieser Zeit in Oesterreich nur in abgeschwaechter Form erfolgt sei. Die 1860/70er Jahre bildeten ein wirtschaftsliberales Intermezzo. Den Wirtschaftsaufschwung dieser Gruenderzeit verdeutlicht die Verdoppelung des Schienennetzes der Monarchie. Der Boersekrach 1873 brachte eine Wirtschaftskrise und die Rueckkehr zu Protektionismus und Schutzzoellen. Die Durchsetzung des Industriesystems in Oesterreich wird in der Zeit zwischen 1880-1913 angesetzt. Viele industrielle Produktionsverfahren fanden erst in dieser Zeit in Oesterreich breite Anwendung.
Der dritte Abschnitt behandelt den Ersten Weltkrieg. Zeitlich (vier Jahre) als auch vom Umfang her (sechs Seiten) ist dies das kuerzeste Kapitel. Obwohl kriegerische Ereignisse die Anforderungen an die Wirtschaft eines Landes wesentlich veraendern und auch in der oekonomischen Entwicklung einen Bruch darstellen, stellt sich hier die Frage, ob dies die Untergliederung in ein eigenes Kapitel rechtfertigt -- zumal auch der Umfang sehr bescheiden ausgefallen ist.
Das vierte Kapitel ist den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen in der Zwischenkriegszeit gewidmet. Beschrieben wird zuerst die Situation des geschrumpften Oesterreich. Zweifel am neuen Kleinstaat, eine funktionslose Ruestungsindustrie, verloren gegangene Rohstofflager und Absatzmaerkte praegten den neuen wirtschaftlichen Status quo. Dies wird an einigen Bespielen deutlich gemacht: z.B. die Trennung der Steinkohlevorkommen in der Tschechoslowakei von den Eisenerzlagern in der Obersteiermark. Trotzdem, so die Autoren, war es um die wirtschaftliche Lage Oesterreichs - im Vergleich zu den anderen Nachfolgestaaten der Monarchie - nicht zu schlecht bestellt. So verfuegte man im Bereich der Infrastrukturausstattung ueber ausreichende Ressourcen. Inflation, Bankenkrach, Weltwirtschaftskrise und politische Wirren kennzeichneten die Zeit bis 1938. Gesellschaftliche Entwicklungen, die damals ihren Anfang nahmen, waren der Automobilismus und das Aufkommen der Kleinfamilie.
Oesterreichs Wirtschaft im Nationalsozialismus behandelt der fuenfte Abschnitt. Diesem kurzen Zeitabschnitt ein eigenes Kapitel zu widmen erscheint sehr zweckmaessig, da das politische System des Nationalsozialismus und dessen wirtschaftliche Praemissen keine aus den oesterreichischen Strukturen entstandene Entwicklung waren. Arisierungen, Kriegswirtschaft und der Einsatz von KZ-Haeftlingen und Zwangsarbeitern gehoeren zu den Kapiteln der oesterreichischen Wirtschaftsgeschichte, die bewusst bleiben sollten. Der Hinweis darauf, dass nationalsozialistische Grossprojekte wie das Kraftwerk Kaprun oder der Autobahnbau erst nach 1945 wirklich in die Realitaet umgesetzt wurden, folgt dann im letzten Abschnitt des Buches -- ein Hinweis, der gerade in Bezug auf den angepeilten Leserkreis besondere Bedeutung hat.
Das letzte Kapitel traegt den Titel Auf der Ueberholspur und weist darauf hin, dass Oesterreich heute zu den zehn reichsten Laendern der Erde zaehlt, also seit 1945 eine wahre Erfolgsgeschichte hinter sich hat. Der Wiederaufbau, die Phase der wirtschaftlichen Konsolidierung, der Eintritt ins Konsumzeitalter, die Sozialpartnerschaft und andere Themen werden darin behandelt. Fuer die Periode der 1980er/90er Jahre wird die Frage gestellt, ob es sich um einen Zeitraum des wirtschaftlichen und politischen Paradigmenwechsels handle.
Seit dem Verlust der absoluten Mehrheit der SPOe bei der Nationalratswahl 1983 bestimmten nach Ansicht der Autoren neue Schlagwoerter -- wie Privatisierung, Deregulierung und Flexibilitaet -- die wirtschaftspolitische Diskussion. Hinzu kamen die Ostoeffnung und der Beitritt Oesterreichs zur EU. Die Hypothesen zur Erklaerung der Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik werden nur referiert (S. 240/41), eine wissenschaftliche Diskussion derselben wird unterlassen. Dies scheint im Hinblick auf das Zielpublikum der Publikation auch nicht erforderlich.
Eine Bemerkung am Rande: Wie schnell sich Superlative relativieren koennen, zeigt die Bildunterschrift auf S.220. Hannes Androsch wird darin als Oesterreichs juengster Finanzminister bezeichnet. Ein Superlativ, das 1999 noch stimmte, ist ein Jahr spaeter schon ueberholt.
Auf die bereits oben erwaehnten Textabschnitte von Susanne Breuss zur Technisierung im Haushalt sei noch besonders eingegangen. Gerade die im Bereich des Haushalts und der Haushaltsfuehrung erfolgten Veraenderungen werden beim Leser besonderes Interesse finden, da sie von jedem/vielen am eigenen Leib miterlebt wurden. Diese Veraenderungen werden auch immer vor ihrem Hintergrund dargestellt. So z.B. der Verweis auf die besondere Propagierung des Rationalisierungsgedankens im Haushalt durch die Elektrizitaetsversorger und Elektrogeraetehersteller, die daran wesentliches Eigeninteresse hatten.
Die relativ geringe Anzahl an Anmerkungen ergibt sich aus der Zielsetzung des Werkes, eine breite Oeffentlichkeit zu erreichen. Wurden laengere Textstellen inhaltlich aus der Sekundaerliteratur uebernommen, so erfolgt der Hinweis darauf im Text und nicht als Anmerkung - dies ist hier legitim. Besonders positiv ist die Anfuegung eines Personen- und eines Unternehmensregisters zu erwaehnen.
Es bleibt zu hoffen, dass der vorliegende Band zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Oesterreichs im 19. und 20. Jahrhundert sein Ziel, eine breite Oeffentlichkeit anzusprechen, durch seine inhaltliche und graphische Gestaltung erreicht -- der hohe Preis steht zu dem allerdings im Widerspruch. Die Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung basiert auf einer soliden Sekundaerliteraturbasis. Damit ist die Publikation ein Beispiel dafuer, wie wissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Fachbereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte fuer eine breite Oeffentlichkeit aufbereitet werden koennen.
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Citation:
Manfred W. K. Fischer. Review of Eigner, Peter; Heilige, und Andrea; Hrsg., Ö?sterreichische Wirtschafts- und Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. 175 Jahre Wiener StÖ¤dtische Versicherung.
HABSBURG, H-Net Reviews.
May, 2000.
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